Adherence-Therapie
Was ist Adherence?
Der Begriff Adherence wird in der Praxis häufig fälschlicherweise als Synonym für Compliance gebraucht. Adherence (engl. für Festhalten, Befolgen), bezeichnet in der Medizin die Einhaltung der gemeinsam von Patient und Arzt gesetzten Therapieziele. Der Patient wird durch eine gemeinsam verantwortete Übereinkunft über die angemessene Behandlung vermehrt einbezogen. Die Adherence als pflegerische Intervention fokussiert also keinesfalls nur die Einnahme von Medikamenten oder die Befolgung einer Maßnahmenplanung, sondern sie zielt auf ein Krankheitsmanagement zwischen dem Patienten und den Pflegenden ab. Von adherenthem Verhalten spricht man, „wenn der Patient ein komplexes Behandlungsregime aktiv, eigenmotiviert und eigenverantwortlich über einen längeren Zeitraum (Monate, Jahre, lebenslang) durchführt.“ (Meyer-Lutterloh 2009, 39) „Professionelle des Gesundheitswesens erläutern den Patienten ihre fachlich begründete Sicht der Dinge – und erfragen zugleich deren Meinung mit dem Ziel, ihre Selbstkompetenz im Umgang mit ihrer Erkrankung zu erhöhen und diese in ihr Leben zu integrieren. Eine wesentliche Säule ist demnach das Interesse der Pflegenden an der Meinung, den Wertvorstellungen und auch den tatsächlichen bzw. empfundenen Barrieren, die aus Sicht der Patienten bestehen. Es bedeutet auch, dass Selbstheilungstechniken, wichtige Aspekte der Wohnsituation, Freunde und Angehörige für das Behandlerteam von Interesse werden.“ (Schulz 2009, 306)
Das Problem der „Compliance“
Die European Health Care Foundation definiert Compliance als: „Mitarbeit bzw. Kooperation des Patienten bei einer medizinischen Behandlung durch die Einhaltung definierter Verhaltensregeln.“ Damit „zeigt Compliance den Grad der Übereinstimmung des Verhaltens der Patienten im Hinblick auf einen sinnvoll formulierten medizinischen Rat.“ (Meyer-Lutterloh 2009, 39) Dem Begriff liegt gedanklich ein paternalistisches oder autoritäres Arzt-Patienten-Verhältnis zugrunde. Das tradierte Rollenverständnis wird nicht in-frage gestellt. Der Arzt als der medizinische Experte gibt das therapeutische Prozedere vor, dem der Patient zu folgen hat. Der Patient gilt als “non-compliant” wenn er – absichtlich oder irrtümlich – die ärztliche Verordnung nicht befolgt. Hierin wird gleichzeitig die Ursache des therapeutischen Misserfolges gesehen. Überspitzt gesagt wird “Non-Compliance” mit ‚Schuld’ des ‚nicht folgsamen Patienten’ gleichgesetzt. (vgl ebd)
Warum halten sich Patienten nicht an unsere Therapiepläne?
Die Gründe dafür, dass Patienten ihre Therapiepläne nicht einhalten, scheinen multifaktoriell zu sein. Bislang konnte dieses Geschehen noch nicht vollständig erklärt werden. Nach Gray (2004) werden sechs Faktoren unterteilt, die das Einhalten von Therapieplänen be-einflussen:
- Die Krankheit, z.B. in Form von Wissensdefiziten über die Krankheit und deren Behandlung.
- Die Behandlung, z.B. in Form von ungewollten Nebenwirkungen.
- Die verschreibende Person bzw. das Behandlungsteam: Wird z.B. mit dem Patienten zusammengearbeitet oder geht man über seine Wünsche und Bedenken hinweg?
- Der Patient, z.B. durch seine Einstellung zur Behandlung oder dadurch, dass er die Einnahme vergisst.
- Das persönliche Umfeld, z.B. durch Druck, der von Bezugspersonen auf Patienten ausgeübt wird.
- Kulturelle Aspekte, z.B. wenn der Patient einer anderen als der westlichen Medizin mehr vertraut. (Gray, 2004 S.84-93)
Berücksichtigt man all diese Faktoren, dann wird deutlich, dass die Ursache für ein abgebrochenes Therapieprogramm nicht alleine bei den Patienten zu suchen ist. Die erfolgreiche langfristige Umsetzung von Therapievorgaben ist auch nicht nur dem Willen bzw. Unwillen des Patienten zuzurechnen. Sie ist vielmehr das Resultat verschiedener Faktoren, wobei der Frage, inwieweit es gelingt, zwischen Professionellen und Nutzern eine tragfähige Beziehung aufzubauen, eine zentrale Bedeutung zukommt.
Wodurch kann Adherence beeinflusst werden?
Es wird deutlich, dass der Fähigkeit der Behandler, partizipative Entscheidungsfindungen mit den Patienten entwickeln zu können, eine besondere Bedeutung zukommt.
Darüber hinaus erfordert die Förderung der Adherence spezielle und individuell angepasste Strategien und Maßnahmen mit dem Ziel, Patienten zu befähigen, ihr Lernen des Umgangs mit der Krankheit selbst zu organisieren, durchzuführen und zu bewerten.
Zudem wird ein Umdenken bei den Mitarbeitern notwendig: „Den Patienten mehr Mitspracherecht an Entscheidungen einzuräumen fällt Berufsgruppen im Gesundheitswesen traditionell schwer. Die Gründe dafür sind vielfältig. So gibt es zwischen Gesellschaft und Gesundheitswesen eine eher unausgesprochene Abmachung, dass ich bei gesundheitlichen Problemen Fachleute konsultiere, die mich dann behandeln. Der passive Charakter der Patientenrolle steht hier also im Vordergrund und entspricht nicht der notwendigen aktiven Ausgestaltung des Krankheitsmanagements bei langfristigen Erkrankungen.“ (Schulz 2009, 308 f.)
„Ungewissheit ist ein vielseitiges Phänomen in der Begegnung mit psychiatrischen Erkrankungen, damit umzugehen zu lernen ist von Bedeutung sowohl für die Patienten als auch das Behandlerteam. Ob Therapieentscheidungen richtig sind, ob sie wirksam sind stellt sich immer erst im Verlauf heraus.“ (vgl. Schulz 2009, 307) Zu dem Faktenwissen, das Pflegenden zur Behandlung von Krankheiten zur Verfügung steht, gehört das Wissen darüber, welche Strategien hilfreich sind bzw. hilfreich sein könnten. Aber keine Intervention wirkt bei allen Patienten gleich. „Das gilt auch für Medikamente: es gibt Menschen mit Psychosen, die von Medikamenten profitieren, es gibt Menschen, die auch ohne Medikamente gesund bleiben und es gibt Menschen, die mit Medikamenten wieder krank werden.“ (ebd.)
Thomas Bock (2008) fordert in diesem Zusammenhang, neben medizinischen v.a. die psychologischen Nebenwirkungen zu beachten und rät zur Selbstreflexion: „Welches Bild vom Menschen, vom Leben, von der Erkrankung wird vermittelt? Wird ein innerer Selbstbezug, ein Selbstverstehen erleichtert oder erschwert? Viele so genannte Non-Compliance Patienten“, so Bock weiter, „lehnen nicht in erster Linie ein bestimmtes Medikament ab, sondern ein reduziertes Verständnis, eine patriachale Beziehung“.
Gesundheitspolitische Relevanz
Chronisch kranke Menschen sind häufig mit dem Problem konfrontiert, längerfristig Medikamente einnehmen zu müssen oder andere Therapieprogramme zur Behandlung ihrer Erkrankung durchführen zu müssen. Darüber hinaus erfordert ein „erfolgreiches“ Krankheitsmanagement bei vielen Erkrankungen mit chronischem Verlauf, dass die Menschen ihren Alltag und ihr Leben darauf ausrichten. Hier seien nur beispielhaft zwei Stichworte wie mehr Bewegung oder Ernährungsumstellung für viele internistische Erkrankungen genannt. Studien zeigen, dass 50 bis 70 Prozent psychiatrisch erkrankter Menschen in-nerhalb von eineinhalb Jahren ihre medikamentöse Therapie abbrechen. (vgl. Gray, Gournay, Wykles 2002) Vielfach hat dies eine Wiedererkrankung und häufig auch einen stationären Aufenthalt zur Folge. In der Fachsprache wird dann oft von mangelnder „Compliance“ gesprochen. Abbrüche der medikamentösen Therapie lassen sich nicht nur bei psychischen, sondern auch bei somatischen Erkrankungen beobachten, z.B. auch bei Patienten mit Bluthochdruck und Diabetes. Ergebnisse aus der Versorgungsforschung zeigen, dass bei chronisch kranken Menschen die Compliance-Rate nicht einmal 30 Prozent beträgt. Patienten wirken nicht nur an der Arzneimitteltherapie nicht richtig mit. Sie verändern den Therapieplan auch unbewusst oder unbeabsichtigt, ohne dass der Arzt davon erfährt. Man vermutet, dass dem Gesundheitswesen etwa 10 Prozent der gesamten Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung durch „non-compliantes“ Verhalten verloren gehen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis empfiehlt die WHO (2003) „die Entwicklung von Strategien mit dem Ziel einer verbesserten Akzeptanz von Therapieprogrammen als ein wesentliches Element, um weltweit Krankheitsfolgen zu verringern.“
Ebenso kann man feststellen, dass „... viele Pflegende, (…) sich in ihrer Rolle frustriert fühlen, wenn sie feststellen, dass Patienten den geplanten Maßnahmen zur Unterstützung ihrer Erkrankung keine Folge leisten. Zu schaffen macht ihnen auch, dass im interdisziplinären Team mehr oder weniger offensichtlich die Auffassung vertreten wird, die Pflege sei dafür da, die Medikamenteneinnahme notfalls mit Zwang bzw. subtiler Gewalt durchzusetzen.“ (Schulz 2009, 305)
Literatur
T. Bock (2008) Eigensinn und Psychose – „Noncompliance“ als Chance. 2. Auflage, Paranus Verlag, Neumünster.
R. Gray, K. Gourney, T. Wykes (2002) From compliance to concordance: a review of the literature on interventions with antipsychotik medikation. Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing, 9: 227 – 284
R. Gray (2004) Verbesserte Einhaltung von Medikamentenvorgaben bei Menschen mit Psychosen. In: R. Bauer, P. Krause, M. Schulz (Hrsg.) Interventionen psychiatrischer Pflege. IBICURA, Unterostendorf, Seite 84 – 93.
K. Meyer-Lutterloh (2009) Patientencoaching: innovativer Ansatz für mehr Effizienz im Gesundheitswesen. In: Versorgungsforschung 04/09
M. Schulz (2009) Leadership auf Interventionsebene - Adhärenz als pflegerische Vision. In: Leadership in der psychiatrischen Pflege. Eine Herausforderung für Praxis -Management – Ausbildung – Forschung- Politik Hrsg.: S. Hahn, H. Stefan, C. Abderhalden, I. Needham, M. Schulz, S. Schoppmann, IBICURA, Unterostendorf, Seite 303 – 326.
M. Schulz, J. Stickling-Borgmann, A. Spiekermann (2009) Professionelle Beziehungsgestaltung in der psychiatischen Pflege am Beispiel der Adhärenz-Therapie. In: Psych Pflege, Georg Thieme Verlag KG, Jg. 15, Seite 226 - 231
World Health Organization (2003) Adherence to long-term therapies: evidence for action, Genf